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Was man tief im Herzen besaß,
kann man auch durch den Tod nicht verlieren.


Als Laura das sah, stockte ihr der Atem. Alles verkrampfte sich in ihr. Sie sah, wie der Bildschirm langsam vor ihren Augen in den Tränen verschwamm und sie nur noch vage die Buchstaben, die ihr gesamtes Inneres gerade ausgelöscht hatten, erkennen konnte.
„Ich kann nicht mehr“.
Das waren doch nur ein paar zusammengesetzte Buchstaben, wie konnte man deswegen ein ganzes Leben an sich vorbeirauschen sehen?
Wie konnte man deswegen denken, alles sei vorbei?
Wie konnten ein paar Buchstaben die Freude und die Glücklichkeit der letzten 8 Monate einfach so zerstören?
Fragen über Fragen.
Keine Antworten.
Nur Fragen.
Laura nahm die nächsten Sätze kaum wahr.
Lina, Steffi und Katja versuchten sie zu trösten. Das sah ihnen mal wieder verdammt ähnlich. Trösten, alle waren ja soo gute Freundinnen von ihr, und alle hatten sie ja soo lieb!!
Laura wusste, was sie von denen zu halten hatte. Am Anfang, da war es noch lustig gewesen, da hatte sie noch Spaß daran gehabt, jeden Nachmittag den Computer anzustellen und die Namen zu lesen, zu chatten, sich zu freuen, und, ja, und wegen Daniel.
Daniel.
Daniel.
Daniel.
Das war das einzigste, was Laura in diesen Augenblicken denken konnte.
Nur an Daniel.
Es schien ihm nicht schwer zu fallen, diese Sätze zu schreiben. Weit hergeholte Erklärungen, oder besser Sätze, die sie ruhig stellen sollten. Ja keine Panik aufkommen lassen, alles war sowieso schon schlimm genug für sie.
Erst der Tod ihres Hundes, dann die verflossene Freundin und nun machte auch noch Daniel Schluss.
Als das mit Senta war, hatte sie ja schon an Selbstmord gedacht, aber Daniel und Lina und Steffi und Katja konnten sie noch davon abhalten.
Dann hatte Carina auf einmal auch besseres zu tun, und ließ Laura allein. Allein mit ihren Problemen.
Und jetzt??
Jetzt dieser Nachmittag. Alles war so schön gewesen, wieder im Chat, wieder zusammen mit ihren Freunden und Freundinnen, Daniel war auch da. Ihr Daniel. Er gehörte doch ihr, er konnte doch nicht einfach so sagen „Aus“, das ging doch nicht.
Sie hatten sich doch in den Nächten, in denen sie telefoniert haben, die ewige Liebe geschworen.
Und jetzt??
Jetzt weinte Laura.
Daniel weinte auch, aber es tat ihm nicht Leid. Er weinte, weil er es doch so niedlich fand, wenn Laura weinte. Sie hatte oft mit ihm am Telefon geweint. Immer diese kindliche Naivität, das machte sie aus. Wenn man sie hörte, da hatte man sofort das Gefühl, man hat es mit einem kleinen und zerbrechlichen Wesen zu tun, das man in den Arm nehmen muss, und man musste aufpassen, dass es nicht zerbrach.
Laura, sie spielte immer die Rollen des kleinen Vogels, der aus dem Nest gefallen war und nicht wieder hereingekrochen kam, aus Angst, oder viel mehr aus fehlender Kraft.
Kraft, die sie jetzt auch nicht mehr hatte.
Sie saß in der Wohnung vor dem Computer und starrte immer noch auf den Satz, auf den Satz, nur auf den Satz.
Auf den Satz, der ihr Leben mit einem Schlag veränderte. Dass Lina und Steffi und Katja da waren, das bemerkte sie gar nicht mehr. Sie sah ein, dass sie sich die ganze Zeit etwas vorgemacht hatte. Die Liebe übers Internet. Und das sollte gut gehen?
8 Monate war es gut gegangen.
8 Monate.
Und jetzt??
Jetzt war es aus. Aus mit den 8 Monaten, mit dem Chatten, dem Telefonieren und mit Daniel. Daniel... Wie schön der Name doch klang. Daniel...
Bei Laura gingen alle Gedanken mit ihr durch. Sie konnte nicht mehr länger mit anhören, wie die anderen versuchten, Daniel fertig zumachen und sie zu trösten. Es war doch sowieso alles nicht ernst gemeint. Die waren doch alles Lügner. Und Daniel erst Recht. Nur ein Lügner. Ohne richtig zu wissen, was sie tat, schaltete sie den Computer aus.
Sie stand auf und ging in ihr Zimmer. Tränen liefen über ihre Wangen und sie wusste nicht, wer sie war, was sie machte, was das Leben sollte.
Als sie aus dem Fenster sah, erkannte sie Schnee. Weiße dichte Flocken, die vom Himmel kamen und die Straßen und Häuser, Bäume und Büsche in ein wunderschönes weiß tauchten.
Laura liebte den Schnee. Das hatte sie schon immer getan. So schön weiß und kalt.
Doch viel mehr liebte sie Daniel. Er war ein Lügner, und doch liebte sie ihn. Dazu waren die letzten 8 Monate zu schön gewesen. Sie liebte ihn noch genauso wie am ersten Tag.
Seitdem war viel passiert. Der Streit, die große Versöhnung, und dann das Treffen.
Den weiten Weg hatte sie in Kauf genommen, er war ihr egal gewesen. Die Zugkosten, auch egal, alles egal, das einzig Wichtige war ihr, dass sie ihn endlich traf. Ihren Daniel. Dass sie ihn endlich mal umarmen und küssen konnte, nicht nur über das Internet sagen konnte dass sie ihn liebte, sondern ihm das ins Ohr flüstern. das war schon lange ihr großer Wunsch gewesen.
Bald würde er Wirklichkeit werden.
Die Begrüßung am Bahnhof war filmreif gewesen. Sie waren aufeinander zugerannt, sie hatte sich um seinen Hals geschwungen und er hatte sie um sich im Kreis geschwungen. Dann hatten sie sich geküsst. Zum ersten Mal.
Und seit diesem einen Kuss wusste Laura, dass Daniel ihr Daniel war. Er durfte nie Schluss machen, und das hatte er auch gesagt. Für immer zusammen, für immer ein Paar.
Und jetzt??
Jetzt sah Laura zu, wie es schneite. Und sie weinte. Und sie wusste, sie konnte auch nicht mehr. Genau wie Daniel es vor einigen Minuten -oder waren es schon Stunden, in denen sie am Fenster saß?- gesagt hatte...
Alles Leid der letzten Zeit staute sich in ihr auf und sie wusste, sie musste etwas unternehmen. Ohne Freundin, ohne Hund, ohne Daniel weiterleben, eine unvorstellbare Vorstellung. Bei dem Gedanken musste sie an Daniel denken. Er hatte diese Widersprüche in Lauras Sätzen immer so süß gefunden. Eine unvorstellbare Vorstellung.
Das bewies mal wieder, dass Lauras Lebens nur aus Daniel bestand. Alles, was sie machte, alles, was sie tat, alles, was sie dachte erinnerte sie an ihn. Und an die 8 Monate.
Ohne zu wissen, wohin, ging sie hinaus. In den Schnee. Sie lief und lief und weinte dabei weiter. Dass die anderen Leute sie dabei anstarrten machte ihr nichts aus. Es würde nichts an ihrem Entschluss ändern.
Laura lief, bis sie zur Brücke außerhalb der Stadt kam. Niemand sonst war hier, außer Laura und dem Schnee.
Völlig außer Atem kletterte sie den Baum, der am Wegrand stand, hinauf. Die Äste waren nass und glitschig vom Schnee. Ihre Hände glitten an den Ästen ab. Ihre Hände wurden noch kälter als sie eine Stelle auf einem der oberen Äste vom Schnee frei wischte. Es kamen Buchstaben zum Vorschein. D A N I E L. Und darum ein Herz.
Das hatte sie hier eingeritzt, als sie sich so sicher war, dass nichts sie auseinander bringen könne.
Und jetzt??
Ihre Tränen fielen auf den Baum und der Schnee chmolz an den Stellen, an denen sie aufkamen.
Mit zitternden Händen befreite sie auch den Stamm von Schnee. Ob es noch da war?
Ihre Finger fühlten die raue Rinde. War es etwa weg? Und war das Messer noch da?
Nein, sie sah das große Astloch im Stamm. Sie griff hinein und zog ein Messer heraus. Der Griff war schon durchnässt und modrig, die Klinge noch einigermaßen scharf und sauber.
Sie rieb es an ihrer Jacke ab und betrachtete es. Ihre Mutter hatte es ihr einmal geschenkt. Damals hatte sie darauf bestanden, ein Messer zu bekommen, weil sie doch so gerne schnitzte. Hätte ihre Mutter gewusst, was sie einmal damit vorhatte, hätte sie es wohl nicht gekauft...
Laura nahm es so fest es ging in die Hand und strich nun das Herz mit den sechs Buchstaben durch. Die Rinde war festgefroren, doch mit einiger Kraft gelang es ihr, zwei Striche durch den Namen zu ritzen. Zufrieden sah sie ihr Werk an. Ihr kamen wieder Tränen, doch diesmal waren es Tränen aus Wut. Wie hatte Daniel das ihr bloß antun können?
Sie rutschte ab, als sie versuchte, den Baum wieder hinunterzuklettern. Gott sei Dank war er nicht allzu hoch und ihr passierte nichts. Gott sei Dank? ...
Ob ihr jemand nachtrauern würde? Vielleicht ihre Mutter. Oder Lina, Steffi und Katja. Aber das meinten die sowieso nicht ernst.
Sie dachte noch etwas weiter darüber nach, als sie das Messer ansetzte.
Tief schneiden, sonst überlebte man. Und längs, nicht quer.
Laura schnitt längs und tief.
Rotes Blut sickerte in den Schnee. In den Schnee, den sie so liebte...


Daniel fing an zu weinen, als er die rote Rose auf den Sarg legte.
Als der Sarg mit Erde bedeckt wurde, fing es sanft an zu schneien...

Zu spät!

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