12. Mai 1332
Als ich schon wach war, konnte ich sie immer noch schreien hören, die Seelen der Toten, die sich an mir rächen wollten, indem sie mir den Schlaf raubten. Es war früh morgens, die Sonne war noch nicht aufgegangen. Ich beschloß, noch ein wenig weiterzuschlafen, doch die Schreie in meinem Kopf wollten auch mehrere Minuten nach meinem Erwachen nicht verstummen. So stand ich schließlich auf und zündete einige Kerzen an, um etwas sehen zu können. Ich öffnete eines der Zauberbücher, die wild durcheinander auf dem Tisch neben meinem Bett lagen und begann, im Schein der flackernden Kerze, darin zu lesen. Ich wollte einige neue Erkenntnisse erhalten, die ich für meine Versuche benötigen könnte. Ich hatte es mir nämlich zu meiner Lebensaufgabe gemacht, den menschlichen Körper zu perfektionieren, ihn widerstandsfähiger zu machen, etwa gegen den Tod. Daß es dazu nötig war, Experimente an Menschen durchzuführen, die tödlich für die Versuchspersonen enden könnten, war mir von Anfang an klar. Ich mußte damit leben, auch damit, daß mich diese Opfer meiner Wissenschaft bis in meinen Schlaf und meine Träume verfolgen könnten, was sie seit einiger Zeit ja leider taten. Ich stöberte in dem alten Buch, bis die Sonne aufging und mein Gehilfe an die Tür meines Zimmers klopfte.
"Tritt ruhig ein, ich bin schon wach," forderte ich ihn auf. Er öffnete die hölzerne Tür und schaute mich mit ernster Miene an.
"Hatten Sie wieder einen dieser Träume?" fragte er mich.
"Ja, jetzt ist es mir nicht einmal mehr möglich, bis zum Sonnenaufgang zu schlafen."
"Das tut mir leid, Meister."
"Ach, nicht so schlimm. Dafür habe ich jetzt mehr Zeit für meine Studien." Ich zeigte ihm eine interessante Textstelle, die ich in dem Buch gefunden hatte.
"Salbei? Das ist wirklich interessant. Meinen Sie, das könnte funktionieren?"
"Auf jeden Fall werde ich es ausprobieren. Irgendwie muß die Stabilisation der Knochen ja funktionieren."
"Aber ich glaube kaum, daß man das mit Salbei bewerkstelligen könnte. Zugegeben, Salbei ist ein wichtiges Kraut für Ihre Experimente, aber es wird meist nur in Zusammenhang mit anderen Kräutern verwendet."
"Ich weiß, ich weiß, aber ich lasse es auf einen Versuch ankommen."
"In Ordnung, Meister. Soll ich Ihnen irgend etwas aus der Stadt mitnehmen?"
"Das übliche eben. Vielleicht noch ein paar Erdbeerblätter, ich habe nicht mehr viele davon und ich benötige sie reichlich."
"Benötigen Sie frische oder getrocknete Blätter?"
"Bring' mir eine Handvoll von den getrockneten mit, die frischen kann ich zur Zeit nicht gebrauchen."
"In Ordnung, Meister. Ich mach mich dann mal auf den Weg."
Mein Gehilfe hatte einen langen Weg vor sich, weshalb ich ihn erst am nächsten Tag zurück erwartete. Er verließ mein Schlafgemach und nahm einen großen Sack, der draußen in der Eingangshalle an einem Haken hing, und ein Fläschchen von meinem Betäubungsmittel mit. Ich schloß die Tür und lauschte, wie er mit schnellen Schritten zum Eingangstor ging, dieses öffnete, hindurchschritt und es von außen wieder schloß.
Als ich ihn nicht mehr hören konnte, ging ich wieder an meinen Schreibtisch, setzte mich und nahm eine Feder zur Hand, um mir zu notieren, wie man dem Zauberbuch nach Knochen mit Salbei stabilisieren konnte. Ich tauchte die Feder in das Tintenfaß und übertrug den Text aus dem Buch auf ein Stück Papier, auf das ich schon allerlei Notizen gekritzelt hatte. Danach las ich noch ein wenig in dem Buch, fand jedoch nichts sonderlich Aufregendes mehr, nur allgemeine Informationen über den Aufbau der Knochen und wie man sie mittels spezieller Gemische unbrechbar machen konnte. Ich hatte diese Gemische schon ausprobiert, leider nicht mit dem von mir gewünschten Erfolg.
Ich beschloß, nachdem ich gegessen hatte, den restlichen Tag damit zu verbringen, die Leichen der Versuchspersonen zu verbrennen, die wir nach mißglückten Versuchen an ihren Knochen hatten töten müssen, um deren höllische Schmerzen zu beenden. Ich trug zuerst die Leiche des Jungen nach draußen, dessen linker Beinknochen total verbogen war. Wir hätten gar nichts anderes tun können, als ihn zu töten, eine Beinamputation wäre zwecklos gewesen, da die unter den gegebenen Umständen auch zum Tod des Jungen geführt hätte, nur zu einem viel qualvolleren. Ich erinnerte mich noch genau an den Versuch mit einer der bereits erwähnten Mixturen, die wir an ihm ausprobiert hatten. Ich hatte mir viel davon versprochen. Leider hatte ich beim Testen der Knochenstabilität durch einen Hammerschlag mit Entsetzen feststellen müssen, daß sich der Knochen verbogen hatte. Man hatte ihn ganz leicht verbiegen können, ohne viel Kraft aufbringen zu müssen. Ich hatte noch ein wenig testen wollen, woran diese Biegsamkeit des Knochens gelegen haben könnte, war dann aber zu dem Entschluß gekommen, den Versuch abzubrechen, da der Junge, den wir auf einem Tisch festgebunden gehabt hatten, zum Steinerweichen geweint und gebrüllt hatte. Mein Gehilfe hatte ihn daraufhin mit einem kräftigen Schlag auf das Genick getötet.
Ich legte die Leiche des Jungen auf eine nicht bewachsene Fläche im Garten neben meinem Turm, in dem ich einige Kräuter angepflanzt hatte, die jedoch nicht so recht wachsen wollten. An diesem Ort hatte ich schon all die anderen Leichen verbrannt, die bei Versuchen ums Leben gekommen waren oder nach diesen getötet werden mußten. Daher lagen hier auch viele halb verkohlte Knochen und sonstige schwer brennbare Leichenteile herum. Als nächstes brachte ich den Leichnam eines jungen Mädchens zur Feuerstelle, dessen Beine von einem Versuch mit einer Mischung, veon der ich durch einen seltenen Band der Encyclopaedia Magica erfahren hatte, verätzt waren. Der Band war sehr alt. Deshalb war es mir nicht möglich gewesen, jedes Wort zu entziffern, weshalb ich womöglich vollkommen falsche Zutaten verwendet hatte.
Die nächste Leiche, die ich hinaus zu den beiden anderen trug, war die eines etwa 5-jährigen Jungen. Bei einem Experiment zur Festigung der Knochen durch Magie war er in einen Zustand von geistiger Verwirrtheit geraten, seine Knochen jedoch hatten sich kein bißchen verfestigt. Da die Verwirrtheit auf Dauer anhielt und mir kein Gegenzauber bekannt gewesen war, war ich zu dem Entschluß gekommen, den Jungen von meinem Diener töten zu lassen.
Ich fragte mich ernsthaft, wozu ich mir die Mühe machte, möglichst die besten Zauberbücher aus aller Welt aufzutreiben, wenn die Inhalte dieser Bücher so unzuverlässig oder schwer lesbar waren, daß man so viele Versuche ausführen muß, wie ich es bisher hatte tun müssen, und diese meist fehlschlagen. Leider war ich auf sie angewiesen.
Ich entzündete die Leichen durch einen Zauberspruch, dessen Formel ich auswendig gelernt hatte, da ich auf diese Weise ein Feuer entstehen lassen konnte, dessen Temperatur höher war als die eines gewöhnlichen Feuers. Außerdem verbrannte das Feuer nur die verzauberten Gegenstände oder Personen. Ich brauchte daher keine Angst zu haben, daß sich das Feuer ausbreiten könnte.
Als die Flammen des Feuers hoch in den Himmel ragten, ging ich zurück in den Turm und beendete den Tag mit einem dürftigen Mahl und dem Durchstöbern einiger Magie- und Kräuterbücher. Anschließend löschte ich alle Kerzen, legte mich in mein Bett und hoffte, daß die Toten mich diese Nacht einmal in Frieden lassen würden. Angesichts der Tatsache, daß ich heute wieder drei Leichen verbrannt hatte, hielt ich dies jedoch für unmöglich.
12. Mai 1998
Dunkelheit. Das Prasseln des Regens. Als es blitzt, ist ein altes Mauerwerk zu sehen, eine Ruine. Kurz darauf ertönt der Donner. Eine Stimme ist zu hören. Sie murmelt Wörter in einer fremden Sprache, vielleicht alte Zauberformeln. Ein helles, rötliches Licht leuchtet plötzlich auf. Eine Gestalt in mittelalterlicher Kleidung erscheint in dem Licht. Sie lächelt und murmelt etwas vom dritten Jahr des Herrn. Nach ihrem Verschwinden taucht ein Gesicht auf, das Gesicht eines etwa 30-jährigen Mannes. Er hat dunkle Haare, leuchtende Augen und eine ernste Miene. Auf einmal zucken Blitze auf, die nur knapp Katrins Kopf verfehlen, deren grelles Leuchten sie jedoch aus dem Traum erwecken kann.
Dunkelheit. Draußen tobt ein Unwetter. Ein Blick auf die Digitalanzeige ihres Radioweckers verrät Katrin, daß es zehn Minuten nach Mitternacht ist. Sie ist aus einem Traum erwacht, einem seltsamen Traum, einem dämonischen Traum, einem teuflischen Traum. Ein ungutes Gefühl überkommt sie, ein Gefühl, daß dieser Traum einen Wendepunkt in ihrem Leben darstellen könnte. Sie denkt noch einmal über das Geträumte nach, während sie sich wieder in ihre Bettdecke kuschelt. Nach wenigen Minuten ist sie eingeschlafen.
Die Kirchenglocken ertönen, um zu verkünden, daß es nun sechs Uhr ist, und mit etwas Verzögerung zeigt auch die Digitalanzeige des Weckers die neue Uhrzeit an, woraufhin sich das Radio einschaltet und Katrin mit einem englischen Pop-Song aufweckt. Diese reibt sich die Augen und stellt das Radio wieder ab. Sie steht auf und begibt sich ins Badezimmer, wo ihr, während sie sich umzieht, der von ihr geträumte Traum wieder in den Sinn kommt. Ein intuitives Gefühl steigt in ihrem Innern auf, das Gefühl, daß eine starke Verbundenheit zwischen ihr und dem Mann, dessen Gesicht ihr erschienen ist, besteht. Sie dreht den Wasserhahn auf und hält den Kopf ihrer Zahnbürste unter den Wasserstrahl. Danach dreht sie den Hahn wieder zu, greift zur Tube mit der Zahncreme und läßt sie plötzlich wieder fallen, als sie am Ringfinger ihrer linken Hand ein Pentagramm entdeckt, das aussieht, als sei es auftätowiert. Mit dieser Entdeckung wird ihre Erinnerung an den Traum wieder klarer, und sie hört wieder die gemurmelten Zaubersprüche, nur unterbrochen vom gelegentlichen Donnerschall. Das letzte, was sie hört, bevor sie wegen dieser akustischen Erscheinung in Ohnmacht fällt, ist der gesprochene Satz der mittelalterlichen Gestalt aus dem Traum:
"Meine Macht wird wieder aufleben, in diesem dritten Jahr des Herrn!"
13. MAI 1332
Weder das in die Bretter meines Bettes geritzte Pentagramm, noch der Ring mit demselben magischen Symbol, den ich am Ringfinger meiner linken Hand trug, konnten mich in dieser Nacht vor einem Alp bewahren, der mir während der ganzen Nacht die schlimmsten Träume bescherte, die man sich vorstellen kann. Ich durchstand jedesmal Todesängste, wenn ich mitten in der Nacht aufwachte und das Knistern des Feuers neben meinem Turm hörte, in dem noch immer die drei Leichen brannten. Ich konnte spüren, wie deren erhitzte Seelen durch mein Zimmer huschten und mir zusammen mit dem Alp eine schier endlos lange Qual bereiteten, bis endlich die ersten Sonnenstrahlen durch das Fenster schienen. Ich stand aus dem schweißnassen Bett auf und begab mich in den Speisesaal, wo ich, während ich frühstückte, auf die Ankunft meines Dieners wartete. Die Sonne stand schon hoch am Himmel und mein Frühstück war längst beendet, als ich hörte, daß das Eingangstor geöffnet wurde. Ich stand auf und ging in die Eingangshalle, um meinen Helfer zu empfangen.
"Guten Tag, Meister," grüßte er, als er mich erblickte.
"Guten Tag. Hast du alles bekommen?"
"Ja, Meister. Hier sind die getrockneten Erdbeerblätter." Er reichte mir einen Beutel, der an seinem Gürtel befestigt gewesen war.
"Hast du auch eine neue Versuchsperson auftreiben können?"
"Gewiß doch, Meister." Er nahm einen großen Sack von seinem Rücken und öffnete ihn. Darin war ein kleiner, schmächtiger Junge, der durch die Wirkung meines Betäubungsmittels schlief.
"Sehr gut. Ich denke, wir können heute abend mit den Experimenten fortfahren."
"Äh, da ist noch was, Meister."
"Ja, was?"
"Nun ja, ich glaube, irgend jemand ist mir auf dem Weg hierher gefolgt."
"Was?" Ich konnte kaum glauben, was mir mein Gehilfe berichtete.
"Ich bin mir nicht sicher, ich habe auch niemanden gesehen, aber ich werde das Gefühl nicht los, daß mich irgendwer gesehen hat, als ich den Jungen hier entführte, und mir dann gefolgt ist."
"Das bildest du dir bestimmt nur ein." Ich versuchte, ruhig zu bleiben, konnte jedoch meine Angst nur schwer unterdrücken. Wenn irgend jemand herausbekommen würde, daß ich für das Verschwinden der Kinder in der Stadt verantwortlich war, müßte ich damit rechnen, daß einige Bewohner der Stadt mich umbringen würden, sobald sie in Erfahrung gebracht hätten, wo ich wohnte. Es war also durchaus nicht verwunderlich, daß ich beunruhigt war, als mir mein Diener erzählte, daß ihn jemand ertappt und verfolgt haben könnte. Bisher hatte es auch keine Probleme gegeben.
"Wir sollten trotzdem etwas vorsichtiger sein. Verriegele das Tor und die Fenster!" befahl ich meinem Helfer, welcher sich prompt in Bewegung setzte, um den Befehl auszuführen. Ich entschied, den geplanten Versuch unter den gegebenen Umständen auf den nächsten Tag zu verschieben. So beschloß ich den heutigen Tag mit der Lektüre eines Buches über magische Symbole, um ein wirksameres Mittel gegen den Alp zu finden, da es schien, als wäre ein Pentagramm zu diesem Zweck nur bedingt zu gebrauchen. In meinen Turm einzudringen, versuchte niemand, weshalb ich vermutete, daß sich mein Gehilfe geirrt haben mußte.
13. MAI 1998
Dunkelheit. Das Prasseln des Regens ist wieder zu hören. Auch jetzt blitzt es, und auch jetzt ist das Mauerwerk zu sehen und der Donner und die Stimme zu hören. Das rötliche Licht leuchtet auf, die Gestalt erscheint, und kurz darauf das Gesicht der Frau mit den halblangen, dunklen Haaren, die um die 25 Jahre alt sein dürfte. Auch jetzt zucken Blitze auf und erwecken Thomas aus seinem Traum. Alles ist wie am Vortag, nur daß er jetzt neben seinem Bett liegt. Er denkt kurz über den vorherigen Tag nach, bis ihm das Pentagramm auf seinem Finger wieder einfällt. Er hat es gestern kurz nach dem Aufstehen entdeckt und ist dann scheinbar in Ohnmacht gefallen, aus der er erst jetzt wieder erwacht ist. Ungläubig begutachtet er seinen linken Ringfinger, und tatsächlich ist darauf ein Pentagramm.
Er steht auf und sammelt seine rings ums Bett verteilten Kleidungsstücke auf. Mit diesen geht er ins Badezimmer, wo er sich wäscht, sich umzieht und seine Zähne putzt. Danach verläßt er seine Wohnung und macht sich auf den Weg ins Stadtarchiv, wo er schon in vergangener Zeit viele für seine Ahnenforschung wichtige Schriften gelesen hat, um sich dort mit Informationen einzudecken, die er dringend benötigen wird.
14. MAI 1332
Diese Nacht bescherte mir ein Succubus [1] in der Gestalt einer besonders schönen Frau einen unreinen Traum, der mich nach meinem Erwachen zurück an meine eigene Frau denken ließ, die vor vielen Jahren an einer unbekannten Krankheit gestorben war. Ihr Tod war der Auslöser für mein Streben nach einer unsterblichen Menschheit gewesen.
Am Mittag holte ich eine Ziege aus dem Stall. Ich schnitt ihr mit einem Messer die Halsschlagader auf und ließ ihr Blut in einen Holzeimer laufen. Den gefüllten Eimer trug ich in den Keller, in meinen Versuchsraum. Ich zeichnete die aus getrocknetem Blut bestehenden Linien des Pentagramms auf den Boden mit dem frischen Ziegenblut nach und wandte einen Zauberspruch auf dem Zeichen an. Danach ließ ich mir von meinem Diener den gefangenen Jungen bringen und auf dem Tisch, der direkt neben dem Pentagramm stand, festbinden. Ich schnitt dem nun vollkommen wehrlosen Jungen in den Finger und ließ sein Blut in die Mitte des Pentagramms tropfen. Das Blut und die roten Linien des magischen Symbols begannen ein wenig zu leuchten. Ich warf nun auch den Salbei in die Mitte des Pentagramms. Die Linien des fünfzackigen Sterns leuchteten jetzt ziemlich stark. Ich nahm meine Aufzeichnungen zur Hand und las die zu diesem Experiment gehörende Zauberformel laut vor. Das Blut des Jungen vermischte sich mit dem Salbei zu einer braunen Paste, die ich, nachdem das Leuchten des Pentagramms beendet war, in meine Hand nahm und auf den nackten Beinen des Jungen verteilte. Eine leicht rote Aura ging nun von diesen Beinen aus. Ich war gespannt, ob es mir diesmal gelungen war, die Knochen zu stabilisieren. Ich nahm einen Hammer und schlug mit aller Kraft auf das Schienbein des rechten Beines. Der Junge schrie laut auf, aber das Bein war unversehrt geblieben. Ein Ausruf der Freude ging über meine Lippen. Endlich hatte ich es geschafft, den Knochen so zu stabilisieren, daß er gegen den Hammerschlag standhielt. Jetzt mußte er nur noch das Sägen durchstehen, dann war er perfekt. Ich nahm also die Säge und begann, das Bein des Jungen zu durchsägen. Ich sägte die Haut entzwei und sägte weiter durch das rohe Fleisch des Jungen. Das Blut spritzte mir entgegen, und auf dem Boden war im Nu eine riesige Blutpfütze. Seltsamerweise konnte ich den Jungen nicht mehr schreien hören. Wahrscheinlich hatte er einen Schock erlitten und das Bewußtsein verloren. Das störte mich jetzt nicht weiter. Ich sägte und sägte, doch der Knochen ließ sich nicht durchsägen. Er war hundertprozentig stabil. Ich hatte es endlich geschafft! Ich warf die Säge unachtsam zur Seite und hätte beinahe vor Freude einen Luftsprung gemacht, als mein Gehilfe mit ernster Miene sagte: "Er ist tot!"
"Wer? Wer ist tot?"
"Na, der Junge, wer sonst? Er muß einen Schock erlitten haben."
"Ach, nein, der ist doch bloß ohnmächtig."
"Das bezweifle ich, Meister."
"Und wenn schon, ich habe es endlich geschafft, nach so vielen Fehlversuchen hat es endlich funktioniert."
"Wahrscheinlich werden Sie recht behalten. Sie werden es dieses Jahr noch schaffen, den perfekten Menschen zu vollenden."
"Ja, ich habe dir gleich gesagt, daß uns das zweite Jahr des Satans die Möglichkeit gibt, einen Menschen von einer Perfektion zu schaffen, die Gott niemals vollbringen könnte. Und nur die Macht des Bösen besitzt das ewige Leben!"
Mein Diener band die Leiche des Jungen los und trug sie in eine Ecke, als ich sprach, mehr mit mir selbst als mit ihm.
An diesem Abend ging ich gleich, nachdem ich gegessen hatte, zu Bett. Ich war richtig erleichtert, daß ich mir keine Sorgen mehr um diese verdammten Knochen machen mußte. Dies war ein Glückstag für mich.
14. MAI 1998
Dunkelheit. "Meine Macht wird..." Ein Blitz erleuchtet die Nacht. "...wieder aufleben, in diesem..." Der Donner unterbricht die Gestalt. "...dritten Jahr des Herrn!" Die Gestalt wendet sich ab, dreht aber noch einmal ihren Kopf zu Katrin. "Morgen ist es soweit. Ich erwarte dich an der Ruine meines Turmes." Danach dreht sich die Gestalt um und verschwindet in der Dunkelheit. Plötzlich erscheint das Gesicht, das Katrin schon die beiden vorigen Nächte zu sehen bekam, nur diesmal nicht mit ernster, sondern mit ängstlicher Miene. Die Blitze zucken, und im nächsten Moment ist Katrin wach und liegt wieder in ihrem Bett.
"Er erwartet mich," ist ihr erster Gedanke. Sie hat jedoch bedauerlicherweise nicht den kleinsten Hinweis darauf, wo sich die Ruine befindet. Und der Mann, dessen Gesicht ihr immer in den Träumen entgegengeblickt hat, war ihr auch total unbekannt. Sie hat Angst und ist völlig verzweifelt. Seltsame Dinge sind passiert seit sie diesen Traum zum ersten Mal geträumt hat. Das Pentagramm an ihrem Finger, die Ohnmacht, die einen ganzen Tag angehalten hat und am Vortag hat sie der Wahn gepackt, unbedingt nach dem Mann mit dem ernsten und nun ängstlichen Blick zu suchen, ohne Erfolg. Sie hat ihren Job in einem Versicherungsbüro sträflich vernachlässigt, und daß, obwohl sie auf diesen angewiesen ist, da sie keine Verwandten hat, die ihr notfalls aus der Patsche helfen könnten. Sie ist vollkommen allein und durch ihre Einsamkeit äußerst verängstigt. Wenn sie doch nur diesen Mann finden könnte, dann... Was dann wäre, weiß sie nicht, aber sie wäre nicht mehr so allein und so hilflos. Wenn sie wüßte, daß der Mann, den sie sich so dringend herbeisehnt, gerade das Stadtarchiv durchstöbert und vorhat, sie sobald wie nur möglich zu kontaktieren, wäre sie bestimmt nicht so ängstlich, wie sie es im Moment ist.
Thomas hat viel Neues über die Ruine herausgefunden, und auch über den Magier. Beide scheinen verflucht zu sein. Vor allem über die Ruine hat er viel ausgegraben, das sich auch vor kürzerer Zeit zugetragen hat.
Als er um 23 Uhr nach Hause kommt, nimmt er sich zuerst das Telefonbuch vor. Er schlägt die Seite auf, auf der die Liste der Namen mit N beginnt, blättert weiter bis NE, weiter bis NEU, und noch weiter bis NEUB, bis er schließlich den Namen Neubert entdeckt. Neubert, Anton. Neubert, Bertold. Neubert, Eduard. Neubert, Emil. Neuber,... Neubert, Katrin. Er hat sie gefunden. Leider steht kein Adresse dabei. Deshalb nimmt er den Hörer seines Telefons ab und tippt die Nummern, die hinter Katrins Namen stehen. 9-4-3-7-5-1. Er hält den oberen Teil des Hörers an sein Ohr und wartet, bis Katrin den Hörer abnimmt. Es klingelt sechsmal, bevor dies geschieht.
"Katrin Neubert."
"Guten Tag, hier spricht Thomas Strauber. Sie werden mit meinem Namen nicht viel anfangen können, aber ich weiß, daß sie mich kennen."
"Der Traum?"
"Genau."
"Woher kennen sie meinen Namen?"
"Das erkläre ich Ihnen später. Wir haben nicht viel Zeit. Wir müssen ihn aufhalten, bevor es zu spät ist."
"Wer ist er?"
"Das werde ich Ihnen auch noch erklären. Nur sagen Sie mir jetzt bitte, wo sie wohnen, damit ich Sie abholen kann. Wir haben noch eine lange Autofahrt vor uns, bevor wir zur Ruine kommen."
"Ich wohne in der Heinrichstraße 16a. Das ist im Norden der Stadt." "Ich werde es schon finden. Bis gleich!"
"Bis gleich." Dieser Anruf hat Katrin ein wenig verwirrt, aber sie ist froh, daß der Spuk bald ein Ende haben wird. Das hofft sie zumindest.
Eine Viertelstunde später biegt Thomas mit seinem alten Golf in die Heinrichstraße ein. Jetzt muß er nur noch das Haus mit der Nummer 16a finden. Er fährt noch einige Meter, bis er es entdeckt. Er fährt den Golf auf den Gehweg, hält ihn an und steigt aus. Er läuft zur Eingangstür und untersucht die kleinen Schilder neben den Klingelknöpfen. Er betätigt den, neben dem "Katrin Neubert (3.Stock)" zu lesen war. Er muß einige Augenblicke warten, bevor ein verzerrtes "Ja, bitte?" aus dem Lautsprecher zu vernehmen ist. Thomas spricht in die Lautsprechanlage. "Hier ist Thomas Strauber, wir haben telefoniert." Ein Summen verkündet, daß die Tür geöffnet werden kann. Thomas drückt sie auf und betritt das Mietshaus. Er fährt mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock und liest dort die Namensschilder an den Türen. Als er Katrins Namen liest, zögert er erst ein wenig, bevor er klingelt. Katrin öffnet die Tür. Die beiden schauen sich zuerst einmal eine Weile an. Sie sehen sich zum ersten Mal. Keiner kennt den anderen. Nur in ihren Träumen sind sie sich bisher begegnet.
"Kommen Sie, wir müssen los," unterbricht Thomas ihr Schweigen. Thomas geht zum Fahrstuhl, und Katrin folgt ihm, nachdem sie ihre Wohnungstür zugeschlossen hat. Sie fahren mit dem Fahrstuhl nach unten, verlassen das Mietshaus und steigen in den Golf ein. Thomas startet den Wagen und fährt los. Nach einiger Zeit beginnt Thomas ein Gespräch mit Katrin. "Ich glaube, ich bin Ihnen einige Erklärungen schuldig."
"Da haben Sie völlig recht."
"Also, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll."
"Sagen Sie mir am besten erst einmal, wo genau wir hinfahren."
"Zu der Ruine, die in Ihren und auch in meinen Träumen zu sehen war."
"Sie hatten diese drei Träume also auch?"
"Ja, natürlich, sonst wäre ich doch nie darauf gekommen, daß etwas Schlimmes passieren könnte und ich hätte Sie niemals aufgesucht." "Wo ist diese Ruine?"
"Sie ist ziemlich weit draußen vor der Stadt, in den Feldern."
"Woher wissen Sie, wo sich die Ruine befindet?"
"Nun ja, ich habe ein paar Quellen über sie im Stadtarchiv entdeckt. Ich bin dort häufiger, müssen Sie wissen. Ich betreibe Ahnenforschung, und da ist es unerläßlich, daß man irgendwoher seine Informationen bezieht."
"Sie betreiben Ahnenforschung?"
"Ja, und ich habe schon vor längerer Zeit herausgefunden, daß einer meiner Vorfahren ein Magier gewesen ist, die Gestalt, die uns in unseren Träumen begegnet ist. Erinnern Sie sich an das Gemurmel dieser Gestalt?"
"Ja."
"Das waren alte Zauberformeln. Das vermute ich jedenfalls. Und wissen Sie, was ich noch herausgefunden habe?"
"Nein, was?"
"Ich habe herausgefunden, daß Sie und ich die einzigen Nachfahren dieses Magiers sind."
"Wirklich?"
"Meine Eltern sind bei einem Hausbrand ums Leben gekommen, und Ihre sind bei einem Autounfall gestorben, aber das dürfte nichts Neues für Sie sein."
"Ja, das stimmt. Woher wissen Sie das alles?"
"Durch meine Ahnenforschung. Deshalb kenne ich auch Ihren Namen."
"Lassen Sie mich raten. Sie haben auch mein Alter herausgefunden, und als Sie dann in Ihrem Traum mein Gesicht gesehen haben, haben Sie sofort gewußt, daß es sich dabei um meines handelt."
"Ja, stimmt genau."
"Was wissen Sie alles über den Magier?"
"Nur das, was die Stadtbewohner damals über ihn aufgeschrieben haben. Er hat angeblich schon in seinem Kindesalter von seinen magischen Fähigkeiten gewußt, wollte aber ein bürgerliches Leben führen. Er hat geheiratet, und seine Frau hat einen Sohn bekommen. Nach einigen Jahren ist sie dann an einer Krankheit gestorben, vielleicht an der Pest oder der Lepra oder was weiß ich, auf jeden Fall ist sie gestorben. Der Magier soll daraufhin verrückt geworden sein und ist aus der Stadt verschwunden. Er ist in einen leerstehenden Turm gezogen, von dessen Existenz damals kaum jemand gewußt hat."
"Was ist mit seinem Sohn passiert?"
"Ein kinderloses Ehepaar hat ihn bei sich aufgenommen."
"Aha." Katrin nickt kaum merklich mit dem Kopf.
"Aber das wirklich interessante ist die Tatsache, daß das Gebiet auf dem der Turm damals gestanden hat, und auf dem sich heute noch seine Überreste befinden, zu denen wir gerade unterwegs sind, verflucht sein soll. Ich habe mehrere Berichte über seltsame Dinge gelesen, die sich dort ereignet haben. Anfang dieses Jahrhunderts beispielsweise ist dort ein Kind, das bei der Ernte auf den umliegenden Äckern helfen sollte, gestorben. Angeblich hat es sich beim Spielen versehentlich mit einem spitzen Stein die Pulsadern aufgeschnitten und ist dann verblutet, so sonderbar das auch klingen mag. Die Erzählungen der Stadtbewohner jedoch haben besagt, daß das Kind plötzlich wieder, aus allen Hautpartien blutend, auf dem Acker aufgekreuzt und erst dann tot umgefallen ist. Ja, und während des Zweiten Weltkriegs ist dort auf mysteriöse Art und Weise ein deutsches Jagdflugzeug abgestürzt und in den 70er Jahren ist dort ein Liebespaar spurlos verschwunden. Es gibt noch etliche Beispiele dieser Art, aus diesem und vorangegangenen Jahrhunderten. Dort müssen eine Menge Gedenktafeln rumstehen, ja, sogar einige der Opfer der Unglücksfälle sollen dort begraben sein. Na ja, auf jeden Fall ist es sonderbar, daß diese Kette von Todesfällen und den anderen Geschehnissen dort erst begonnen hat, als der Magier gestorben ist."
"Wann ist er denn gestorben?"
15. MAI 1332
Diese Nacht erwachte ich aus meinen schrecklichen Träumen, da von draußen Lärm zu hören war. Ich stand sofort auf und ging in die Eingangshalle. Dort konnte ich sehen, daß das Eingangstor durch starke Gewalteinwirkung von außen bebte. Die Stadtbewohner hatten meinen Turm also doch entdeckt. In diesem Moment kam mein Gehilfe aus seinem Zimmer angelaufen.
"Halte die Leute auf, ich gehe in den Keller und hole mein Schwert," rief ich ihm zu, als auch schon das Tor aus seinen Angeln brach, und mehrere Stadtbewohner hereinstürmten. Sie waren mit Keulen, Messern und Beilen bewaffnet und hielten Fackeln in ihren Händen. Mein Diener stand in ihrer Nähe, und die ersten, die hereingekommen waren, prügelten auf ihn ein, noch ehe er flüchten konnte. Er schrie, bis ihm einer der Angreifer den Kopf mit einem Beil spaltete. Sein Blut und seine Gehirnmasse flossen aus dem gespaltenen Schädel und tropften auf den Boden, auf dem sein Körper aufstieß.
Ich war währenddessen die Leiter in den Keller hinabgestiegen und hatte mich mit meinem Schwert bewaffnet. Einige der Leute waren mir nach unten gefolgt und kamen jetzt auf mich zu. Dem ersten, der in meine Reichweite kam, stieß ich das Schwert in den Hals. Er ging röchelnd zu Boden und hielt sich, nachdem ich das Schwert wieder herausgezogen hatte, seine Hände an die klaffende Wunde an seinem Hals. Den nächsten, der sich mir näherte, wehrte ich ab, indem ich dessen Herz zerschnitt.
Ich konnte auch noch einige andere abwehren. Schließlich kamen jedoch zu viele gleichzeitig auf mich zu, so daß ich nicht alle abwehren konnte. Deshalb schaffte es einer von ihnen, mir mit einem Beil den Bauch aufzuschlagen. Meine Gedärme quollen hervor. Ein schier unendlicher Schmerz überkam mich, der aber nicht lange anhielt, da mir ein anderer meinen Kopf von meinem Haupt trennte. Mein Körper fiel rücklings auf das Pentagramm am Boden, und mein Blut ergoß sich in dessen Mitte. Die Stadtbewohner erschraken, als das Blut und die Konturen des Pentagramms aufleuchteten. Sie verließen schlagartig den Keller, zündeten meinen Turm an und flüchteten zurück in die Stadt. Meinen Körper jedoch ließen sie zurück. Er lag verlassen von allem Leben auf dem Pentagramm, mein Kopf gleich daneben. Und dort blieb er auch liegen, bis er vollkommen verwest war.
15. MAI 1998
Dunkelheit. Das Scheinwerferlicht des Golfes durchschneidet die Dunkelheit. Der große Zeiger der Uhr im Armaturenbrett springt um. Es ist gerade Mitternacht, als Thomas Katrins Frage beantwortet. "Nun ja, da es jetzt Mitternacht ist, kann man sagen, daß er heute vor genau 666 Jahren gestorben ist." "Wie ist er gestorben?"
"Ein Lynchkommando aus Bewohnern der Stadt hat ihm den Garaus gemacht."
"Warum denn das?"
"Wissen Sie, er hat in seinem Turm irgendwelche Experimente an Menschen durchgeführt. Und aus diesem Grund hat er Kinder aus der Stadt entführen lassen."
"Entführen lassen? Von wem denn?"
"Er hat angeblich einen Diener gehabt, der ihm bei den Experimenten geholfen hat." Nachdem Thomas dies gesagt hat, schweigen beide erst eine Weile, bevor Katrin fragt: "Ist es noch weit?"
"Nein, in spätestens zehn Minuten sind wir dort."
"Was meinen Sie, was uns dort erwartet?"
"Keine Ahnung." Wieder Schweigen.
Acht Minuten später fahren sie von der kaum befahrenen Landstraße auf einen Feldweg. Ein Schild verkündet, daß das Befahren dieses Weges eigentlich nur in land- und forstwirtschaftlichen Fahrzeugen gestattet ist. Weder Thomas noch Katrin stört es im Anbetracht der Geschehnisse auch nur im geringsten, dieses Schild zu mißachten.
Nach einigen weiteren Minuten erreichen sie schließlich die Ruine. Thomas hält den Golf so an, daß sie von den Autoscheinwerfern optimal beleuchtet wird, um auch in dieser dunklen Nacht etwas sehen zu können. Thomas steigt aus, und, nachdem sie kurz innegehalten hat, auch Katrin. Langsam bewegen sich die beiden auf das alte, zerfallene Mauerwerk zu. In dem Durcheinander aus Steinen, Dreck und Unkraut können sie ein rotes Leuchten sehen. Sie schauen einander ratlos an und gehen dann weiter auf das rote Licht zu.
"Helfen Sie mir bitte, den Dreck hier wegzuräumen," bittet Thomas und beginnt den Schutt, durch den das Leuchten dringt, zur Seite zu räumen. Katrin hilft ihm. Sie legen eine Falltür frei.
"Das Leuchten kommt aus einem Raum unter uns, wahrscheinlich der Keller des ehemaligen Turms. Seltsam, daß den noch keiner entdeckt hat," bemerkt Thomas. Er öffnet die Falltür und verharrt, bis sich seine Augen an das Licht gewöhnt haben. Dann klettert er die Leiter hinab, Katrin folgt ihm. Die beiden schauen sich zuerst einmal in dem Raum um. Der Raum ist voll von Regalen, die mit kleinen Schachteln gefüllt sind, auf denen Kräuternamen stehen. In der Mitte des Raumes steht ein Tisch, neben dem auf dem Boden ein teilweise mit Dreck bedecktes Pentagramm aufgezeichnet ist, von dem scheinbar das rote Leuchten ausgeht.
"Was meinen Sie, ist dies der Raum, in dem der Magier seine Experimente mit den Kindern aus der Stadt durchgeführt hat?" fragt Katrin ängstlich.
"Das ist sehr wahrscheinlich."
Plötzlich wird das Licht heller, und Thomas und Katrin müssen ihre Augen zusammenkneifen, um nicht geblendet zu werden. Als es wieder dunkler wird, können die beiden sehen, daß der Magier auf dem Pentagramm erschienen ist.
"Oh, mein Gott!" ruft Katrin aus.
"Ja, ja, bitte deinen verdammten Gott ruhig um Hilfe," sagt der Magier verächtlich.
"Was wollen Sie von uns?" fragt Thomas den Magier.
"Ooh, laß doch dieses förmliche Sie. Schließlich sind wir ja... Verwandte."
"Ja, leider. Also, was willst du von uns?"
"Nun ja, nicht viel. Ich bitte euch nur, meine Experimente zu Ende zu führen."
"Das werden wir bestimmt nicht tun," wendet Katrin ein.
"Och, da muß ich dich leider enttäuschen. Die Entscheidung liegt nämlich bei mir, und ich habe sie bereits getroffen, meine Kleine."
"Was sind das eigentlich für Experimente?" will Thomas wissen.
"Wichtige Experimente für die gesamte Menschheit, bei denen euch allerdings einzig und allein der Teufel helfen kann."
"Wieso denn das?"
"Nun ja, wenn es darum geht, einen Menschen zu schaffen, der unsterblich ist, ist euer allmächtiger Gott leider nicht zu gebrauchen, denn dessen Geschöpfe sind vergänglich und allesamt von minderwertiger Qualität. Nur das Böse lebt für immer. Seht bloß mal mich an! Wenn ich eurem Gott nicht abgedankt hätte, wäre ich seit 666 Jahren tot und könnte mich jetzt nicht mit euch unterhalten. Und das wär' doch schade, oder etwa nicht?"
"Das ist nicht wahr. Unsere Seelen sind unsterblich."
"Hm, das muß euch dieser angebliche Prophet Jesus erzählt haben," der Magier lacht. "Es ist ja schon lustig genug, daß dieser Witzbold behauptet hat, er wäre der Sohn einer Jungfrau, aber noch lustiger ist, daß ihr ihm das geglaubt habt, daß ihr ihm wirklich alles geglaubt habt, was er euch erzählt hat, ihr verdammten Gottgläubigen. Und den wahren Propheten und Erlöser habt ihr verkannt. Wahrscheinlich, weil er ehrlich war und euch die Wahrheit über seine Mutter erzählt hat. Er hat niemals gesagt, er sei der Sohn einer Jungfrau, nein, er sagte von Anfang an, daß er der Sohn einer Hure sei, einer Hexe, um genau zu sein, die weise genug war, sich mit dem Teufel einzulassen, aber ihr seid ja nie an der Wahrheit interessiert gewesen, nur an schönen Geschichten. Der wahre Prophet ist unbeachtet von allen in den Tod gegangen. Na ja, das interessiert euch doch sowieso nicht. Die Hauptsache ist, daß der Teufel wieder zwei, sagen wir mal Freiwillige gefunden hat, die sein Ziel weiterverfolgen, die die Menschheit unsterblich machen und die alles Gute vernichten werden!"
"Ich sterbe lieber, als daß ich in einer Welt ohne Liebe lebe," erwidert Katrin.
"Die Liebe ist sinnlos. Wenn jeder unsterblich ist, ist es unnötig, sich fortzupflanzen, um die eigene Rasse zu erhalten. Tja, und wenn die Fortpflanzung ihren Sinn verloren hat, hat auch die Liebe keinen Zweck mehr."
"Ich werde keines dieser Experimente durchführen!"
"Wie schon gesagt, du hast keine Wahl. Ich habe wieder genug Macht, deine Seele in meinen Besitz zu bringen.Es ist nämlich das dritte Jahr des Herrn."
"Das dritte Jahr des Herrn?" Thomas schaut den Magier fragend an.
"Dreimal 666 Jahre sind vergangen seit der Geburt meines Propheten, und der von eurem Lügner. In diesem Jahr ist Satans Macht am größten."
"Äh, ich glaube, daß wir jetzt besser verschwinden," meint Thomas, an Katrin gewandt. Er dreht sich um.
"Oh nein, verdammte Scheiße!" schreit er, als er hinter sich einen Jungen entdeckt, der aus allen Hautpartien blutet. Auch Katrin erschreckt sich, als sie sich daraufhin umdreht. Der Junge kommt langsam auf die beiden zugelaufen. Seine Augen leuchten rot und er hält ein Beil in seiner Hand.
"Ist er nicht süß, der Kleine?" fängt der Magier an zu reden. "Ich habe ihm dieses schöne Spielzeug geschenkt, nachdem er sich bereit erklärt hatte, mir zu dienen, zwar nicht freiwillig, aber immerhin. Das schöne Spielzeug hat übrigens einem der Männer gehört, die mich umgebracht haben, oder zumindest geglaubt haben, daß sie das getan haben. Nun ja, vielleicht wäre es jetzt an der Zeit für eine Meinungsänderung eurerseits. Der Junge spielt nämlich sehr gerne, müßt ihr wissen."
Thomas will gerade etwas sagen, als er hört, daß jemand die Leiter hinabsteigt. Er sieht einen Mann in einem alten, halbverbrannten Pilotenanzug, der mit Hakenkreuzen verziert ist. Als der Mann den Boden erreicht und sich umdreht, kann Thomas erkennen, daß das Gesicht des Mannes total verkohlt ist und seine Augen leuchten.
"Ach, du meine Güte, das werden ja immer mehr," flucht Katrin, die sich auch umdreht, als Thomas leichenstarr zur Leiter blickt. Der Pilot zieht eine Pistole aus seiner Fliegerjacke und richtet sie auf Thomas.
"Ah, mein alter Freund und Kriegskamerad," spricht der Magier mit einer belustigten Stimme. "Ihn zu meinem Untertan zu machen, ist wirklich nicht schwer gewesen. Er ist ein Nazi, wie man an den lustigen Kreuzen auf seiner Jacke leicht erkennen kann, und hat das Böse schon in sich getragen. Nicht wahr, mein Freund?"
Der Nazi nickt, hebt seine rechte Hand und ruft: "Heil Satan!"
"Heil Satan! Tja, wie ihr hört, hat er seinem Führer Adolf Hitler, diesem geistig verwirrten Psychopathen, abgedankt, und den Teufel als seinen neuen Führer anerkannt," grinst der Magier.
"Also, wenn Sie meine Meinung..." beginnt Thomas, wird aber von dem Magier unterbrochen, der wütend sagt: "Du, du sollst mich duzen, verdammte Scheiße noch mal, wir sind Verwandte, merk' dir das ein für alle Mal!"
"Ich duze, wen ich will. Und jetzt laß' mich dir einmal was sagen, mein lieber Verwandter." Thomas spricht mit einer wütenden Stimme. "Du bist das abstoßendste und widerwärtigste Wesen, dem ich je begegnet bin. Und wir werden keines deiner beschissenen Experimente durchführen, egal mit wie vielen Zombies, Nazischweinen oder sonstigen Arschlöchern du sonst noch aufwarten kannst, nicht wahr, Frau Neubert?"
"Genau," sagt Katrin voller Überzeugung.
"Na gut, ihr habt es nicht anders gewollt. Jetzt muß ich Gewalt anwenden. Macht die beiden fertig!" befiehlt er den beiden Untoten. Augenblicklich bückt Thomas sich, um dem Schuß des Nazis zu entgehen, der daher in der gegenüberliegenden Wand einschlägt und dort ein Loch hinterläßt. Er zieht seinerseits eine großkalibrige Pistole aus seiner Jackentasche, zielt auf die Stirn des 3.-Reichs-Piloten und drückt ab. Das Blut und das Gehirn des Zombie-Nazis spritzen durch den ganzen Raum. Der Untote taumelt, läßt die Waffe fallen und fällt rückwärts auf den Boden. Währenddessen hat das blutende Kind Katrin angegriffen. Es schlägt der schreienden Frau die rechte Hand ab. Blut ergießt sich aus dem neuen Ende des Armes über den ganzen Boden. Thomas reagiert schnell und schießt dem kleinen Untoten eine Kugel in die Brust. Die großkalibrige Patrone durchdringt den Körper des Mini-Zombies und reißt dabei dessen Herz mit an die Wand hinter ihm. Der Junge fliegt mit einem gewaltigen Satz nach hinten und bleibt auf dem nun blutüberströmten Boden leblos liegen.
"Verdammt, nun aber weg hier!" schreit Thomas und reißt Katrin mit sich in Richtung Leiter. Die vor Schmerz schreiende Frau versucht, mit Thomas Schritt zu halten. Thomas läßt sie zuerst die Leiter hinaufsteigen. Sie hat einige Schwierigkeiten wegen ihrer fehlenden Hand, schafft es aber trotzdem. Danach steigt Thomas hinterher.
Der Magier, der das ganze Gemetzel teilnahmslos mitverfolgt hat, bleibt auf dem Pentagramm stehen. Er kann es nicht verlassen. Wieso sollte er auch? Er hat ja seine Helfer.
Kaum sind Katrin und Thomas oben angelangt, bemerken sie, daß ihre ganze Mühe umsonst gewesen ist. Im Scheinwerferlicht des Golfes hat sich eine riesige Schar von Zombies versammelt. Der ehemalige Gehilfe des Magiers ist da, auch einige Teilnehmer des Lynchkommandos, die ihr Leben gelassen haben, ein Liebespaar im 70er-Jahre-Look und viele andere mehr sind zu sehen. Thomas gibt noch ein paar Schüsse auf die Zombies ab, bevor er bemerkt, daß es sinnlos ist. Die Meute aus Untoten fällt über die beiden her und zerfleischt sie bis zur Unkenntlichkeit. Danach tragen sie die zermatschten Körper und einige verstreut auf dem Boden liegende Innereien hinab in den Keller, dem Magier zu Füßen. Dieser beschwört die blutüberströmten Leichenteile seiner beiden Verwandten und macht sich deren Seelen untertan.
Seit diesem Tag verschwinden in der Stadt wieder mehr Kinder als in den Jahren zuvor. Es ist mal wieder Zeit für einen Aufstand gegen das Böse, es ist mal wieder Zeit für ein neues LYNCHKOMMANDO.
Succubi (auch Drunterlieger) sind im Volksglauben des Mittelalters Dämonen, die schlafenden Männern erotische Träume bereiteten, um von ihnen Samenergüsse geliefert zu bekommen. Entsprechend gab es auch Incubi (auch Drauflieger), die bei Frauen erotische Träume verursachten, um mit dem gesammelten Sperma, neue Dämonen zeugen zu können. Diese Vorstellung entstand durch die Unterdrückung sexueller Wünsche und Triebe während des Mittelalters.
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