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Leben (Andreas Fecher)  

Noch jetzt kann ich sein von tiefen Furchen durchzogenes Gesicht deutlich vor mir sehen, mit all seinen von Schmerz und Kraftlosigkeit gezeichneten Zügen. Gestern war ich das letzte Mal bei ihm gewesen. Heute bin ich umsonst zum Krankenhaus gekommen. Als ich ankam, hatten ihn die Ärzte bereits für tot erklärt. Seine Energie war aufgebraucht. Auch an mir hat seine lange Krankheit gezehrt, auch ich habe an Energie eingebüßt, aber ich lebe. Ich lebe noch.

Ich habe mir immer gewünscht, dass nie dieser Tag kommen mag, aber es war natürlich unausweichlich. Jeder stirbt irgendwann, jetzt war eben mein Vater an der Reihe. Er war der einzige Mensch, den ich noch hatte. Ich habe mit ihm gekämpft, gegen die Krankheit angekämpft. Ich war immer bei ihm und versuchte ihm zu helfen, so gut ich konnte. Er hat mir auch immer geholfen, mein Leben lang. Aber jetzt bin ich ausgepowert, habe meine ganze Kraft geopfert, und es gibt niemanden weit und breit, der mir jetzt hilft, mit meiner Trauer umzugehen, niemand, der mir Kraft schenken könnte. Ich bin ganz allein.

Einsam sitze ich in der nun leeren Wohnung und starre die Wand an. Hier hat er mich aufgezogen, ganz allein, hat mir geholfen, mich in meinem Leben zurechtzufinden. Er wollte immer, dass etwas aus mir wird, dass er stolz auf mich sein kann. Er hat mir den Sinn im Leben aufgezeigt. Aber wo liegt jetzt der Sinn des ganzen jetzt, da er nicht mehr da ist. Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob er es wüsste. Zu gern würde ich ihn fragen.

Die letzten Monate habe ich nur für ihn gelebt, er war der Sinn meines Lebens. Jetzt ist er nicht mehr da. Verliert dadurch mein Leben seinen Sinn?

Es gibt sonst niemanden, für den es sich zu leben lohnt, zumindest kenne ich keinen, habe nie zu jemand anderem eine tiefere Beziehung aufgebaut. Ich und mein Vater, wir gehörten zusammen. Wir waren durch eine unsichtbare Schnur verbunden. Nun ist die Schnur an einem Ende zu Boden gefallen. Leise, fast sanft. Und doch höre ich den Aufprall wie einen lauten Knall, der in meinen Ohren dröhnt.

Ich frage mich, wo er sich jetzt befindet. Ich kann keine Antwort finden. Mein Vater hatte sich oft mit mir über den Tod unterhalten, als das damals mit Mutter passiert war. Ich war noch sehr jung, aber es gibt Erinnerungen im Leben, die verblassen auch nach Tausenden Jahren nicht.

Ich fragte ihn damals, ob Mutti jetzt für immer weg bliebe, und er antwortete mir: „Weg? Aber sie ist doch nicht wirklich weg.“
„Ich kann sie aber nicht sehen!“
„Du meinst, du kannst sie nicht mit deinen Augen sehen. Aber sie ist noch da. Schließe doch einmal deine Augen!“
Ich schloss meine Augen.
„Und jetzt denke an sie, denke an ihr bezauberndes Lächeln, an ihr Gesicht, ihre blauen, strahlenden Augen. Du wirst sie nicht mit deinen Augen sehen können, aber mit deinem Geist.“

Und ich sah sie genau vor mir, wie sie mich anlächelte, so wie sie es oft getan hatte, als sie noch am Leben war.
„Ihr Körper ist tot, ist vergraben auf dem Friedhof, aber ihr Geist existiert noch. Sie lebt jetzt in unseren Gedanken und Erinnerungen. Jemand für den wir noch Liebe empfinden, kann nicht einfach aufhören zu existieren. Solange es auf dieser Welt noch jemanden gibt, der sie geliebt hat, wird sie weiterleben. Auch in dir lebt sie weiter, tief eingebettet in das tiefste Innere deines Herzens.“
Ich öffnete meine Augen wieder. „Glaubst du, dass es ihr gut geht?“
„Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass es so ist.“
„Meinst du, ich kann mich mit ihr unterhalten?“
„Versuch es, schließe deine Augen und versuche es. Vielleicht antwortet sie dir.“
Ich schloss erneut meine Augen.
„Mutti?“
Vielleicht war es auch nur meine kindliche Phantasie, die mir damals antwortete, aber ich konnte deutlich ihre Stimme vernehmen: „Ja!“
„Mutti? Bist du das?“
„Ja, mein Kind!“
„Mutti, wie geht es dir?“
„Mir geht es gut. Ich bin hier umgeben von soviel Liebe, es ist herrlich.“
„Mutti, ich liebe dich!“
„Ich dich auch, mein Kind!“
„Papi?“
Keine Antwort.
Meine Gedanken wandern. Ich frage mich, in wessen Herzen ich weiterleben werde, wenn ich tot bin. Mir fällt niemand ein. Es ist keiner da, der mir Liebe schenken könnte. Es gibt niemanden, der mich liebt außer meinen Vater, der jetzt im tiefsten Innern meines Herzens von meiner Liebe lebt.

Die unsichtbare Schnurr will mich auch zu Boden reißen. Es kostet mich viel Kraft, nicht auch umzufallen, aber ich habe nicht mehr viel davon. Wenn ich und mein Vater mit soviel Liebe verbunden sind, wieso fühle ich dann nur Schmerz?

Ich frage mich, wie alles weitergehen soll, suche nach einer Lösung. Ich laufe im Zimmer hin und her, aber mir fällt nichts ein.
„Papi!“
Wieder nichts.
Ich bin allein gelassen, auf mich selbst gestellt. Hilflos und ohne Schutz. Dem Leben ausgeliefert. Ausgeliefert. Dem Leben.
„PAPI!!!“
Zwecklos.
Ich will nicht ausgeliefert sein, will nicht einsam vor mich hin leben. Ich will überhaupt nicht mehr leben. Ich will entfliehen. Ich rücke den Stuhl zurecht. Dann laufe ich noch ein paar mal im Kreis. Ich denke, denke und denke, aber es gibt keine andere Lösung. Keine Hilfe für mich. Keinen Sinn. Keine Liebe. Ich steige auf den Stuhl. Mir fällt ein Bild an der Wand auf, dass mich und meine Eltern zeigt, in längst vergessenen Zeiten. Das Bild strahlt Wärme und Geborgenheit aus. Und Liebe. Aber die Personen gibt es nicht mehr. Ich lege den Strick um meinen Hals. Das Ende. Der einzige Ausweg.

Ich werfe den Stuhl um.

Und noch ehe der Stuhl zu Boden fällt, fühle ich es im tiefsten Innern meines Herzens: Ich habe ihn umgebracht!


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